Bereits im Dezember 2022 hat sich der Europäische Gerichtshof („EuGH“) mit der Frage von missbräuchlichen Klauseln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen („AGB“) befasst und eine folgenschwere Entscheidung getroffen (EuGH, Urt. v. 08.12.2022 – C-625/21 – VB/GUPFINGER Einrichtungsstudio GmbH). Diese hat bislang – zu Unrecht – kaum Beachtung gefunden:
1. Sachverhalt: Worum ging es?
In dem Rechtsstreit klagte ein Unternehmer, namentlich die GUPFINGER Einrichtungsstudio GmbH („Gupfinger“) gegen einen Verbraucher, der von den mit Gupfinger geschlossenen Kaufvertrag über eine Einbauküche (Kaufpreis über 10.000 EUR) zurückgetreten war, nachdem er das entsprechende Haus nicht erwerben konnte. Die AGB des Kaufvertrags sahen vor, dass der Unternehmer im Falle eines unberechtigten Rücktritts vom Vertrag durch den Kunden, entweder Erfüllung des Vertrags verlangen oder der Aufhebung des Vertrags zustimmen kann, wobei im letzteren Fall der Käufer nach Wahl des Unternehmers zur Zahlung eines pauschalisierten Schadensersatzes in Höhe von 20 % des Kaufpreises oder eines Schadensersatzes in Höhe des tatsächlich entstandenen Schadens verpflichtet ist. Gupfinger verlangte mit Verweis auf diese Klausel, nach Rücktritt des Verbrauchers, den Ersatz des tatsächlich entstandenen Schadens einschließlich entgangenen Gewinns und verklagte den Verbraucher.
Der Verbraucher wandte dagegen ein, dass er aufgrund der Missbräuchlichkeit dieser Klausel, wenn überhaupt, nur zur Zahlung des pauschalisierten Schadensersatzes verpflichtet sei und nicht zur Zahlung des vollständigen Schadensersatzes, welcher deutlich höher gewesen wäre als der pauschalisierte Schadensersatz (mehr als 5.000 EUR).
1.1. Die Urteile
Während sich alle Instanzen der österreichischen Gerichte einig waren, dass die Klausel missbräuchlich und damit unwirksam war, urteilten sie aber unterschiedlich hinsichtlich der Höhe des Schadensersatzes: Trotz Unwirksamkeit gewährte die erste Instanz nur den reduzierten Schadensersatz, während die zweite Instanz dem Verbraucher den vollen Schadensersatz zusprach. Erst der Oberste Gerichtshof in Österreich („OGH“) hegte Zweifel, ob die Anwendbarkeit des dispositiven nationalen Rechts im Falle der Unwirksamkeit einer Klausel mit der Rechtsprechung des EuGH zur Auslegung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5.4.1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträge („Richtlinie 93/13“) vereinbar ist und legte dies dem EuGH vor.
1.2. Vorlagefragen
Der OGH wollte daher vom EuGH wissen, ob Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 so auszulegen sind, dass die Anwendung einer dispositiven nationalen Vorschrift bei einem vertraglichen Schadensersatzanspruch eines Unternehmers gegen einen Verbraucher ausgeschlossen ist, wenn sich der gewerbliche Verkäufer durch eine Schadensersatzklausel wahlweise einen pauschalisierten Schadensersatzanspruchs zubilligt und diese aufgrund ihrer Missbräuchlichkeit für nichtig erklärt worden ist, während sich das Schadensersatzverlangen des Unternehmers auf die dispositive nationale Regelung stützt.
2. Was hat der EuGH entschieden?
Im Zentrum der Entscheidung des EuGH steht die Auslegung des Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5.4.1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträge.
2.1. Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13
In Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 steht:
„Die Mitgliedstaaten sehen vor, daß mißbräuchliche Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, für den Verbraucher unverbindlich sind, und legen die Bedingungen hierfür in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften fest; sie sehen ferner vor, daß der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die mißbräuchlichen Klauseln bestehen kann.“
Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 betont die Eindämmung der Verwendung von missbräuchlichen Klauseln als Verantwortung der Mitgliedsstaaten:
„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, daß im Interesse der Verbraucher und der gewerbetreibenden Wettbewerber angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, damit der Verwendung mißbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird.“
Insbesondere Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 solle aber nach dem EuGH nicht die Nichtigkeit sämtlicher Verträge herbeiführen, sondern das Ungleichgewicht zwischen den Vertragsparteien beseitigen, welches sich aus der Verwendung missbräuchlicher Klausel ergebe, sodass der Vertrag – abgesehen vom Wegfall missbräuchlicher Klausel – unverändert fortbestehen solle, sofern dies nach innerstaatlichen Recht möglich sei.
2.2. Lückenfüllung durch dispositives nationales Recht nur als Ausnahme
Wenn eine Klausel nichtig ist, entsteht eine Lücke im Vertrag. Diese wird grundsätzlich – auch nach deutschem Recht (§ 306 Abs. 2 BGB) – durch Anwendung des dispositiven nationalen Rechts geschlossen.
Der EuGH erteilt diesem Vorgehen jedoch eine Absage. Stattdessen soll das Ersetzen von missbräuchlichen Klauseln durch eine dispositive nationale Vorschrift nur eine Ausnahme sein:
Erst in Fällen, in denen die Streichung missbräuchlicher Klausel dazu führe, dass der Richter den Vertrag in seiner Gesamtheit für unwirksam erklärt, was für den Verbraucher besonders nachteilige Folgen hätte, so dass dieser dadurch geschädigt würde, bestehe eine solche Möglichkeit. Das nationale Gericht darf daher die missbräuchlichen Klauseln nicht durch dispositive nationale Vorschriften ersetzen, was der EuGH bereits in einem anderen Fall (EuGH, Urt. v. 08.09.2022 – C-80/21 und C-82/21 – D.B.P. u.a.) entschieden hat.
Der EuGH hat in einem weiteren Urteil, das eine missbräuchliche Entschädigungsklausel in einem Aktienleasingvertrag zum Gegenstand hatte, eine Anwendung des dispositiven nationalen Rechts versagt (EuGH, Urt. v. 27.01.2022 – C229/19 und C289/19 – Dexia Nederland). Danach hat ein Gewerbetreibender, der eine missbräuchliche Klausel gegenüber einem Verbraucher verwendet und diese vom nationalen Gericht daraufhin für nichtig erklärt wird, wenn der Vertrag ohne diese Klausel fortbestehen kann, keinen Anspruch auf eine Entschädigung, die in einer dispositiven nationalen Vorschrift vorgesehen ist, die ohne diese Klausel anwendbar gewesen wäre. Mit dem jetzigen Urteil hat der EuGH seine Rechtsprechung bekräftigt.
2.3. Keine geltungserhaltende Reduktion
Die erste Alternative der strittigen Klausel sieht vor, dass der Unternehmer den pauschalisierten Schadensersatz wählen kann, was als missbräuchlich einzustufen ist. Die zweite Alternative der Klausel spiegelt mit dem vollständigen Ersatz des Schadens als zweite Wahlmöglichkeit die nationale Vorschrift, § 921 S. 1 ABGB, wider. Nach dem EuGH ist diese Klausel insgesamt als missbräuchlich zu bewerten. Es bestehe ein erhebliches Ungleichgewicht zwischen den Rechten und Pflichten der Parteien zum Nachteil des Verbrauchers, da eine solche Klausel den Unternehmer die Wahlmöglichkeit im Falle einer Vertragsauflösung einräume,
- entweder eine Entschädigung in Höhe von 20 % des Vertragswerts zu erhalten, wenn der tatsächlich entstandene Schaden geringer ist, oder,
- eine Entschädigung in Höhe des tatsächlich entstandenen Schadens zu verlangen, wenn der Schaden sich auf mehr als 20 % des Vertragswerts beläuft.
Dieser „Mechanismus“ ermögliche damit den Unternehmern bei kleineren Schäden eine Entschädigung zu verlangen, die den tatsächlich entstandenen Schaden übersteige.
Daher ist eine solche Klausel nach dem EuGH unteilbar und insgesamt für nichtig zu erklären. Es soll daher keine sogenannte „geltungserhaltende Reduktion“ geben. Auch dürfe die strittige Klausel nicht durch dispositives Gesetzesrecht, das ohne die Klausel anwendbar gewesen wäre, ersetzt werden.
Hinweis: Das bedeutet im Ergebnis, da die Klausel nichtig ist und dispositives Gesetzesrecht nicht anzuwenden ist, dass der Verbraucher von jeglicher Schadensersatzpflicht befreit ist und der Unternehmer auf seinen Schaden „sitzen bleibt“.
Dies sei jedoch nach dem EuGH mit folgender Begründung unerheblich: Ziel von Art. 7 der Richtlinie 93/13 ist, der Verwendung missbräuchlicher Klauseln langfristig ein Ende zu setzen. In einem Fall, in den dispositives Gesetzesrecht nicht anzuwenden ist, soll ein „Abschreckungseffekt“ dadurch entstehen, dass die missbräuchliche Klausel unangewendet bleibt. Der EuGH rechtfertigt dies mit dem öffentlichen Interesse, auf welchem der Verbraucherschutz beruht, angemessene und wirksame Mittel vorzusehen, um die Verwendung missbräuchlicher Klauseln zu unterbinden.
Der EuGH resümiert deswegen Folgendes:
„Daher kann sich ein Gewerbetreibender, der das vertragliche Gleichgewicht durch Auferlegung einer missbräuchlichen Klausel gestört hat, nicht auf das Gleichgewicht berufen, um den Folgen der Ungültigerklärung dieser Klausel zu entgehen.“
Hinweis: Ob die Art. 6 Abs. 1 und 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 wirklich derart weitereichende Konsequenzen zulassen, ist höchst fraglich (dazu instruktiv und weiterführend Herresthal, Die unionsrechtlichen Vorgaben bei unwirksamen AGB-Klauseln, NJW 2023, 1161). Dies begründet der EuGH auch nicht. Zwar entfaltet die Entscheidung nur im Hinblick auf das konkrete Verfahren Bindungswirkung, aber da weitere Vorlagefragen in anderen Fällen selten zu anderen Urteilen führen, sollte davon ausgegangen werden, dass nationale Gerichte die Entscheidung des EuGH berücksichtigen werden.
3. Auswirkungen des EuGH-Urteils auf das deutsche Recht
Die gesetzlichen Regelungen des deutschen Rechts sind ähnlich zu den österreichischen Vorschriften: Nach § 306 Abs. 1 BGB bleibt der Vertrag im Übrigen wirksam, wenn die AGB nicht Vertragsbestandteil oder unwirksam sind. Gemäß § 306 Abs. 2 BGB wird die bestehende Lücke des Vertrags dann durch die dispositiven gesetzlichen Vorschriften geschlossen.
306 Abs. 2 BGB muss nun im Sinne des EuGH richtlinienkonform ausgelegt werden, solange der deutsche Gesetzgeber nicht tätig wird:
- Ist eine Klausel missbräuchlich und daher unwirksam, darf sie nicht durch dispositives Gesetzesrecht geschlossen werden, wenn dies nachteilig für den Verbraucher ist.
- Nur wenn der Wegfall missbräuchlicher Klauseln dazu führt, dass der Vertrag in seiner Gesamtheit unwirksam wird und dies eine Schädigung für den Verbraucher darstellt, kann die Lücke durch gesetzliche Regelungen geschlossen werden.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Richtlinie 93/13 nach Art. 1 Abs. 1 missbräuchliche Klauseln in Verträgen zwischen Unternehmer („Gewerbetreibende“) und Verbrauchern im Blick hat. Die Rechtsprechung des EuGH betrifft daher nur Business-to-Consumer-Verträge („B2C-Verträge“) und keine Business-to-Business-Verträge („B2B-Verträge“).
4. Handlungsbedarf für Unternehmer!
Im B2C-Bereich müssen Unternehmer ihre Geschäftsbedingungen auf mögliche missbräuchliche Klauseln sorgfältig prüfen und ggf. entsprechend anpassen. Die bislang gängige Praxis, unwirksame Klauseln zu verwenden, weil es zunächst jemanden geben muss, der sich beschwert und einem selbst dann ja häufig noch die gesetzliche Regelung geholfen hat, muss daher zumindest bei Verbraucherverträgen auf den Prüfstand.
Wenn Unternehmer missbräuchliche Klauseln zum Nachteil des Verbrauchers verwenden, können sich Unternehmer nicht mehr auf die alternative Lösung über Gesetz verlassen. Auch über – dann ausgeschlossene – Schadensersatzansprüche hinaus kann dies Relevanz erlangen.
Beispiele:
- Die pauschale Vereinbarung höherer, als in § 288 Abs. 1 BGB (aktuell 5% über dem Basiszinssatz) geregelter, Zinsen dürfte zu einem vollständigen Zinsausschluss bei Verzug führen.
- Denkbar wäre beispielsweise, dass ein unzulässigerweise als Opt-Out ausgestalteter Newsletterversand (Verstoß gegen § 7 Abs. 2 UWG) in Nutzungsbedingungen dazu führt, dass das Unternehmen auch keine E-Mails mehr für vergleichbare Produkte (Ausnahme vom Einwilligungserfordernis, § 7 Abs. 3 UWG) versenden darf.
- 3. Der vollständige Ausschluss datenschutzrechtlicher Schadensersatzansprüche (als Abweichung vom gesetzlichen Leitbild nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam), dürfte dazu führen, dass sich der Unternehmer auch bei fehlender Verantwortlichkeit für den Schaden, nicht auf die Haftungsbefreiung gemäß Art. 82 Abs. 3 DSGVO berufen kann.
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